barrierefrei·Newsletter | 19.04. 2021

Guten Morgen an diesem Montag 🌞

Ab dem 01. Januar 2022 soll der ÖPNV in ganz Deutschland barrierefrei sein. Das sind noch 8 Monate und knapp zwei Wochen. Schau doch einfach mal in Deiner Stadt nach: Ist das zu schaffen?

Für Berlin kann ich die Antwort selbst geben: Nein, das ist nicht zu schaffen.

Ich wohne an einer Buslinie, die vor drei Jahren als "Modell" für eine automatische Ansage umgerüstet wurde. Für gewöhnlich stehen an Bussen ja nur visuelle Informationen zur Linie und zum Ziel bereit. Um ganz nach dem Zwei-Sinne-Prinzip auch auf anderem Weg an diese Information zu kommen, muss bisher Kontakt zum Fahrpersonal aufgenommen werden. In Zeiten von infektionsschutzbedingt geschlossenen Türen ist das noch schwieriger als zuvor.

Wie für solche Modellprojekte üblich, ist mittlerweile der Projektzeitraum beendet. Die Systeme wurden wieder abgebaut und alles bleibt voller Barrieren wie eh und je. So viel also zur Nachhaltgkeit von solchen Modellen.

Aber bleiben wir doch bei Berliner Bushaltestellen: Es gibt davon laut BVG ca. 6.500 Stück. Was denkst Du, wie viele davon barrierefrei sind? Also barrierefrei im Wortsinn, ohne dass vom Personal zunächst eine Rampe angelegt werden muss. Die Antwort gebe ich Dir am Ende des Newsletters, wir schauen erst mal zu ein paar anderen Baustellen...

Barrierefreiheit im Klein-Klein der Kommunalpolitik

Nachrichten über neue barrierefreie Haltestellen gibt es deutschlandweit zuhauf. Es bewegt sich etwas, das Tempo ist aber erschreckend niedrig. Oft steht beim Abbau von Barrieren die Kommunalpolitik im Weg. Gemeinderäte diskutieren, schieben auf, lehnen ab.

Aus Rauenburg in Baden-Württemberg wurde mir eine besonders kuriose Begründung weitergeleitet. Darin heißt es:

"Ein sukzessiver Ausbau der Haltstellen ist zu begrüßen, einen Turbogang brauchen wir aber nicht", sagte Jürgen Bender (CDU). Am Kirch- und Rathausplatz tue er sich aber schwer mit einem Umbau: "Wir werden dort hoffentlich bald wieder Feste mit Alkohol und Weinseligkeit feiern", so Bender. In barrierefreien Haltestellen sehe er dann eine zusätzliche Unfallgefahr.

Barrierefrei heißt nicht frei von Barrieren

Doch selbst wenn eine Bushaltestelle neu- oder umgebaut wird, muss sie nicht unbedingt barrierefrei nutzbar sein. Ein Beispiel, das einem Schildbürgerstreich gleicht, gibt es im Potsdamer Ortsteil Groß Glienicke zu entdecken.

Fragwürdig sind da zunächst zwei große Bäume, die mitten in der Haltestelle stehen - klar, sie waren schon vorher da, aber so ganz barrierefrei ist das nicht. Das größte Problem ist aber: man kommt nicht hin zur Haltestelle!

Über das angrenzende Privat-Grundstück ist wegen fehlenden Wegerechts kein Zugang möglich. Fahrgäste gelangen nur über die vielbefahrende Bundesstraße 2 zur Haltestelle. Traurig, aber gebaute Realität...

Forderungen zur Herstellung der vollständigen Barrierefreiheit im ÖPNV

Barrierefreiheit beginnt nicht erst mit dem Einstieg ins Fahrzeug. Sie bedeutet, dass bereits die Fahrplanauskunft und die Information über Beförderungsbestimmungen für alle ermöglicht werden muss. Dabei sind die Bedürfnisse an Information und Hilfestellung aller mobilitäts-, sinnes-, lern- und psychisch beeinträchtigter Menschen zu berücksichtigen.

Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. hat bereits im Januar Forderungen zu Papier gebracht. Die gesamte Mitteilung findest Du hier.

Als Erstunterzeichnerin unterstützt die ISL auch die Forderung nach einem guten Barrierefreiheitsrecht. Ein Bündnis von 30 Organisationen setzt sich öffentlich dafür ein, dass noch in der laufenden Legislaturperiode der Gesetzgebungsprozess angestoßen wird. Es sind noch 67 Tage Zeit bis zur letzten regulären Sitzung des Deutschen Bundestags...

Update für Blog und Podcast.

Barrierefreiheit bei Autismus

Am 02. April fand der Welt-Autismus-Tag statt. Um die vielfältigen Barrieren für Autist_innen ging es daher auch im barrierefrei·Podcast auf. Zunächst in einer Episode, in der verschiedene Betroffene zu Wort kommen und von ihren ganz individuellen Barrieren berichten.

Als kleines Ostergeschenk gab es am Ostersonntag eine Premiere: das erste live-Interview im barrierefrei·Podcast! Jasmin Subklewe, eine Autistin, die ich über Twitter kennen und sehr schätzen gelernt habe, spricht mit mir über Barrierefreiheit für Autist_innen. Riesig große neonpinke Plüschkühe kommen auch vor!

Ein Blick auf meine Elternzeit

Jeden Abend stehe ich in der Küche. Räume weg, wasche ab, mache Ordnung. Es ist meine Zeit, die ich mir seit einigen Wochen bewusst nehme. Meist tanze ich dabei wie wild durch die Küche und bin froh darüber, dass mich niemand beobachtet. Manchmal höre ich aber auch Podcasts – über eine Episode, die mich zum Nachdenken über meine Elternzeit gebracht hat, habe ich vor Ostern gebloggt.

Veranstaltungen in dieser Woche

Häusliche Pflege braucht barrierefreies Wohnen

Architektursymposium "Bauen im Revier" zur Bedeutung der Pflege für den Strukturwandel
20.04.2021 von 09:15 bis 14:00 Uhr

Inklusion bei digitalen Arbeitsplätzen

Webinar unter dem Titel The Acceleration of Innovation in Inclusive Virtual Workplaces for Persons with Disabilities
21.04.2021 von 17:00 bis 19:00 Uhr

UX und barrierefreie Digitalprodukte

Impulsvorträge, Austausch und Networking zum Thema (Dis)Ability: Von ignorierten Zielgruppen und barrierefreien Digitalprodukten
22.04.2021 von 18:25 bis 21:30 Uhr

Und, wie sieht es nun aus in Berlin?

Ich bin Dir noch eine Antwort schuldig. Also, wie viele barrierefreie Bushaltestellen gibt es nun in Berlin?

🥁 *trommelwirbel* 🥁

Eine. Oder in Zahlen: 1.
Martin an einer Wand neben einem alten Wandtelefon lehnend. Er hält den Hörer am Ohr und lächelt.
Zwischen dieser und der Schildbürger-Haltestelle in Potsdam liegen übrigens nur 8 Kilometer. Wie klein die barrierefreie Welt doch ist...
Es gibt noch viel zu tun und wir machen nächste Woche genau hier weiter!

Bis dahin,
Dein Martin

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