barrierefrei·Newsletter | 25.10.2021

"Blinde überfallen keine Tankstelle!"

So sagte es gestern ein Kommissar im Mainzer Tatort. Es war nicht die einzige Situation, in der von sehenden Menschen pauschale Falschaussagen über das Leben als blinder Mensch getroffen worden.

Ein Problem, dass es nicht nur beim Tatort gibt.

Auch im Bereich der Barrierefreiheit wird viel zu oft über Betroffene statt mit ihnen geredet. Doch wie sollen so Barrieren abgebaut werden, wenn man sie selbst gar nicht kennt? Eine Variante sind oft Experimente, bei denen über einen bestimmten Zeitraum mit entsprechenden Brillen, Anzügen oder durch die Nutzung von Rollstühlen das Leben als Mensch mit Behinderung simuliert wird.

Auch solche "Ein Tag im Rollstuhl"-Experimente sind jedoch kein mit Betroffenen reden. Raul Krauthausen hat auf seinem Blog einen schönen Text verfasst, in dem er das Problem mit diesen Experimenten darlegt.

Aber zurück zu den Annahmen über blinde Menschen:
In der VDI-Richtlinie 6008 werden Anforderungen an Barrierefreiheit im Bezug auf verschiedene Arten von Behinderungen und Nutzendengruppen festgelegt. Damit sollen die allgemeinen Angaben aus der DIN 18040 spezifiziert werden.

Für blinde Menschen steht dort als ein verpflichtendes Element für Barrierefreiheit auch ein Duschsitz dabei. Ein Duschsitz? Ja, da musste ich auch noch ein zwei Mal lesen.

Ohne Duschsitz keine barrierefreie Dusche für blinde Menschen.
So steht es in der Richtlinie.

Weil ich noch nie darüber nachgedacht habe, fragte ich meine blinden Twitter-Followees, wie sie denn duschen. Hier einige der Antworten:

  • "Im Stehen. Es sind ja meine Augen, die nicht mehr so wollen und nicht Beine oder Rücken."
  • "Bin nicht blind aber stark sehbehindert und dusche sowohl mit Brille/Kontaktlinsen im Stehen als auch ohne."
  • "Ich wüsste nicht mal per se, warum der sinnvoll sein sollte… Ich wäre nie auf die Idee gekommen im Sitzen zu duschen, solange es mir körperlich gut geht. Warum auch? :O"
Ein Tag im Rollstuhl oder einmal mit geschlossenen Augen duschen kann nie den Kontakt zu Betroffenen ersetzen. Sie leben täglich mit Barrieren und wissen daher selbst am besten, wie diese abgebaut werden können.

Allein nach Normen und Richtlinien zu arbeiten, schafft noch keine Barrierefreiheit. Dafür braucht es Erfahrung und den steten Austausch mit verschiedenen Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen.

Ich bin unglaublich froh, dass ich vor allem über Twitter und den Newsletter diesen Austausch kontinuierlich halten kann. Das kann ich Dir auch nur raten: lass die Richtlinien liegen und sprich lieber mit den Menschen 🙂
Komm gut durch die letzte Oktoberwoche!
Dein Martin

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