Intersektionale Barrierefreiheit

Was verstehe ich eigentlich unter ‚Barrierefreiheit‘? Seitdem ich mich mit dem Thema beschäftige, schleiche ich um eine Antwort auf diese Frage herum. In einer Art Essay möchte ich jetzt eine Antwort geben, indem ich den Begriff der ‚intersektionalen Barrierefreiheit‘ einführe.


Immer wieder taucht die Frage auf, was Barrierefreiheit denn nun eigentlich beinhaltet. Die einzig verlässliche und allgemein anerkannte Definition steht im Behindertengleichstellungsgesetz. Darauf bezieht sich auch die DIN 18040 für Barrierefreies Bauen.

Wie der Name des Gesetzes schon vermuten lässt, bezieht sich die Definition auf Behinderungen. Barrierefreiheit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung.

Aus meiner Sicht sollte der Anspruch an Barrierefreiheit jedoch größer gefasst werden. Für gelingende Inklusion ist sie zwingende Voraussetzung. Diese umfasst jedoch nicht nur die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung sondern von allen Menschen. Eine Erweiterung der Barrierefreiheits-Definition um zwei Bereiche ist daher notwendig:

  • Indirekte Barrieren, die erst aus dem Vorhandensein von greifbaren Barrieren entstehen.
  • Barrieren, die gesellschaftliche Inklusion verhindern aber keinen Bezug zu Behinderung haben.

Definition von Barrieren

1. Unterteilung in direkte und indirekte Barrieren

Unter direkten Barrieren verstehe ich all das, was gemeinhin für Barrierefreiheit abgebaut werden soll: baulich, digital, kommunikativ, sozial. Oft wird bei Barrierefreiheit zunächst an Rampen und Aufzüge für Rollstuhlnutzende gedacht – eben weil Stufen eine bauliche Barriere darstellen. Doch aus einer direkten Barriere „zum Anfassen“, entstehen ganz schnell weitere Probleme, die ich als indirekte Barrieren bezeichne.

Ein Beispiel dafür ist die gesundheitliche Versorgung. In weiten Teilen Deutschlands besteht akuter Mangel an fachmedizinischen Praxen. Ganz allgemein und für alle. In dem Moment, wo Patient*innen auf eine barrierefreie Praxis angewiesen sind, diese aber nicht vorhanden ist, verschärft sich dieser Mangel noch einmal massiv.

Die berüchtigten “nur zwei Stufen am Eingang”, die auf den ersten, nicht sensibilisierten Blick eine unerhebliche Barriere darstellen, schaffen sofort weitere Barrieren beim Zugang zu fachmedizinischer Versorgung:

  • explizite Suche nach einer Praxis ohne Barrieren (mit freien Kapazitäten)
  • weitergehende Einschränkung der Wahlmöglichkeit
  • zusätzlicher Aufwand für (noch) längere Anfahrt: Organisation, Zeit, Geld

Neben der dadurch weiter verschlechterten Versorgungslage, entstehen insbesondere zeitliche und finanzielle Mehrbelastungen, die weitere Benachteiligungen jenseits der “nur zwei Stufen am Eingang” nach sich ziehen. Eine direkte, sicht- und anfassbare Barriere zieht indirekte und unsichtbare Barrieren nach sich.

2. Ergänzung von Barrieren ohne Behinderungsbezug

Die Barrieren, mit denen Menschen konfrontiert sind, sind jedoch vielfältig. Nicht alle davon stehen im Zusammenhang mit Behinderungen. Barrieren treten auch in Verbindung mit Geschlecht, Alter oder Herkunft auf – oder ganz grundsätzlich gesagt: jede Form von Diskriminierung stellt eine Barriere dar.

Benachteiligungen, wie sie Diskriminierungen zu Grunde liegen, sind mit Barrieren vergleichbar. Egal ob sie bewusst oder unbewusst errichtet werden, behindern sie Menschen. Ganz allgemein gesagt ist eine Barriere meinem Verständnis nach ein externes, hinderndes, exkludierendes Element. Etwas, das zwischen Individuum und Inklusion in die Gesellschaft steht.

3. Barrieren in Köpfen?

Beim Umgang mit behinderten Menschen wird oft von „Barrieren in den Köpfen“ gesprochen. Dabei geht es nicht um fehlende Rampen oder Untertitel im Kopf, sondern schlussendlich um benachteiligende und diskriminierende Ansichten oder Gedanken.

Diese hängen jedoch nicht nur mit Behinderungen zusammen, sondern sind vielfältiger. Eine „Barrierefreiheit im Kopf“ kann also nur entstehen, wenn auch gedankliche Barrieren im Bezug auf andere Faktoren wie Klasse oder sexuelle Identität nicht mehr existieren.

Das, was ich hier beschreibe, ist Intersektionalität.

Nach dem Gunda-Werner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung handelt es sich bei Intersektionalität um eines der wichtigsten Konzepte im akademischen und aktivistischen Kontext, um Mehrfachdiskriminierungen sichtbar zu machen und zu erforschen.

Die intersektionale Perspektive veranschaulicht dabei, dass sich Formen der Unterdrückung und Benachteiligung nicht einfach aneinanderreihen lassen, sondern in ihren Verschränkungen und Wechselwirkungen Bedeutung bekommen. Kategorien wie Geschlecht, „race“, Alter, Klasse, Ability, sexuelle Identität und weitere wirken nicht allein, sondern vor allem im Zusammenspiel mit den anderen.

Die intersektionale Perspektive erlaubt, vielfältige Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse miteinzubeziehen, die über die Kategorie Geschlecht allein nicht erklärt werden können.

Zentrale Einrichtung Gleichstellung und Diversität der Universität Vechta

Ursprünglich entstammt Intersektionalität dem feministischen Aktivismus. Bezogen auf „mein“ Thema könnte der letzte Absatz des Zitats also wie folgt geändert werden:

Die intersektionale Perspektive erlaubt, vielfältige Barrieren miteinzubeziehen, die über die Kategorie Behinderung allein nicht erklärt werden können.

Eine Straßenkreuzung als Sinnbild

Der Begriff Intersektionalität ist vom englischen Wort für Straßenkreuzung abgeleitet. Die unterschiedlichen Straßenzüge stellen verschiedene Diskriminierungsformen dar. Ein Unfall auf der Kreuzung kann von einer einzelnen Straße aus geschehen oder mit Verkehr aus sämtlichen Straßen gleichzeitig. Die Unfallvermeidung kann entsprechend nicht nur mit isolierter Betrachtung der einzelnen Straßenzüge erfolgen, sondern muss auch im Zusammenspiel der unterschiedlichen Verkehrsströme gesehen werden.

Das Bild der Straßenkreuzung ist auch aus Sicht der Barrierefreiheit passend. Denn während Rollstuhlnutzende zum Beispiel auf abgesenkte Bordsteine mit schwellenlosen Übergängen angewiesen sind, benötigen blinde und sehbehinderte Menschen zur Orientierung Bordsteinkanten von mehreren Zentimetern Höhe. Das zeigt ein klassisches Problem beim Finden barrierefreier Lösungen: Barrierefreiheit für eine Nutzendengruppe kann zugleich neue Barrieren für andere Nutzende schaffen.

Was ich unter intersektionaler Barrierefreiheit verstehe, zeige ich Dir am besten an einem Beispiel:

Der Genderstern als Barriere

Hier im Blog gab es schon mehrere Beiträge zum Thema geschlechtersensibler Sprache, unter anderem zur (Un-)Vereinbarkeit von Gendern und Barrierefreiheit. Mein Fazit dazu lautet: Gendern ist nicht barrierefrei – es nicht zu tun, aber auch nicht!

Mit Blick auf die BGG-Definition, die sich ausschließlich auf Barrieren im Zusammenhang mit Behinderungen konzentriert, ist die Sache einfach: geschlechtersensible Sprache schafft keine Barrierefreiheit, da keine behinderungsbedingten Barrieren abgebaut werden. Im Gegenteil, sie schafft mehr Barrieren – z.B. für Menschen, die auf Einfache oder Leichte Sprache angewiesen sind.

Die sprachliche Fixierung auf ein generisches Maskulinum birgt erhebliche Barrieren, insbesondere für nicht-männliche Personen. Aus mangelnder Sichtbarkeit und Repräsentanz ergeben sich Benachteiligungen und Diskriminierungen, die durch geschlechtersensible Sprache abgebaut werden können. Sie schafft in diesem Sinne also Barrierefreiheit.

Für mich und mein intersektionales Verständnis von Barrierefreiheit überwiegt keine der beiden Perspektiven, keine der beiden Straßenzüge der Kreuzung. Ob mit oder ohne geschlechtersensibler Sprache, Barrieren bleiben bestehen oder entstehen neu.

Eine differenzierte Betrachtung ist hier unabdingbar, führt aber zu keiner abschließenden Lösung der Probleme. Deswegen hebe ich erneut hervor: Gendern ist nicht barrierefrei – es nicht zu tun, aber auch nicht!

Intersektionale Barrierefreiheit als zentrale Voraussetzung für gesellschaftliche Inklusion

Jede bestehende Barriere ist immer mehr als das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Barrieren behindern auf verschiedenste Weisen – nicht nur direkt, sondern viel stärker noch indirekt. Intersektionale Barrierefreiheit nimmt gerade auch die indirekten Auswirkungen von Barrieren in den Blick, die in Verbindung mit anderen Diskriminierungsformen neu entstehen oder verstärkt werden.

Inklusion als gesellschaftliches Ziel ist nur zu erreichen, wenn Barrierefreiheit intersektional ermöglicht wird.

Klar ist: Der intersektionale Ansatz macht Barrierefreiheit nicht einfacher. Im Gegenteil: Es ist der Versuch, eine Vereinfachung der bestehenden Probleme und die Verengung auf einzelne Teilaspekte wie bauliche Fragestellungen zu verhindern.

Damit will ich keineswegs die Notwendigkeit des Barrierenabbaus als Grundlage für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung schmälern. Aber, und das ist der Kern von meiner Auffassung, nicht zu Lasten anderer marginalisierter und diskriminierter Gruppen. Andersherum dürfen die Interessen behinderter Menschen jedoch genauso wenig übergangen werden, wenn es um Barrieren ohne direkten Behinderungsbezug geht.

Wenn Inklusion intersektional sein muss, muss es auch Barrierefreiheit sein.

Intersektionalität wird zunehmend auch außerhalb eines feministischen Fokus vermehrt betrachtet. Gerade auch beim Thema Inklusion, das ja nicht nur im Bezug auf Behinderung zu sehen ist, bekommt die intersektionale Perspektive stärkere Bedeutung.

Barrierefreiheit und Inklusion sind unzertrennbar miteinander verknüpft, oder wie ich gern sage: Barrierefreiheit schafft erst den Raum für gelingende Inklusion. Die intersektionale Betrachtung von Inklusion muss sich also auch beim Blick auf Barrieren und Barrierefreiheit niederschlagen.

Über diesen Ansatz der intersektionalen Barrierefreiheit möchte ich gern diskutieren – mit Dir und sehr gern auch mit anderen. Beteilige Dich doch direkt, indem Du hier auf der Seite kommentierst und teile den Beitrag anschließend.

8 Gedanken zu „Intersektionale Barrierefreiheit“

    • Hallo Katja 👋
      Wie schön, dass Du Dich in meinem Vorschlag wiederfindest. Im Zuge einer anderen Diskussion zum Thema Intersektionalität wurde aufgeworfen, diesen Begriff im ursprünglich (Schwarz-)feministischen Kontext zu belassen und stattdessen mit Interdependenz weiterzuarbeiten. Vielleicht ergibt sich daraus also noch ein mal eine Anpassung.

      Hattest Du den Begriff Interdependenz schon mal vor Augen?

  1. Hallo, ich finde das Konzept super.
    Was mir fehlt wäre die Dimension Barrieren die durch Mehrheitsverhalten zustande kommen. Beispielsweise während Corona für Risikogruppen oder für Autist*innen durch Umgang mit Sprache etc

    • Hallo Frank,
      da hast Du recht – dieser Text ist nicht barrierefrei, da er weder in Leichter Sprache noch in Deutscher Gebärdensprache bereitsteht. Ein Manko, das übrigens die gesamte Website betrifft. Für die Übersetzung stehen aktuell leider keine finanziellen Mittel bereit. Sollte der Begriff intersektionale Barrierefreiheit aber Anklang finden, werde ich eine Übersetzung in LS und DGS mal in Erwägung ziehen. Danke für den Impuls!

  2. Hallo Martin, mir gefällt deine Definition von intersektionaler Barrierefreiheit ebenfalls sehr gut. Sehr schön, wie hier die drei Begriffe Inklusion, Barrierefreiheit und Intersektionalität zusammengedacht werden – sozusagen als Dreiklang: Nur durch die Barrierefreiheit ist Inklusion erst möglich und da Inklusion alle Facetten menschlicher Vielfalt mit einschließt, muss hier auch die Barrierefreiheit mehrdimensional gedacht werden.

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